Wolf Schmid"DIALOGIZITÄT" IN DER NARRATIVEN "KOMMUNIKATION"
In welchen Grenzen ist es sinnvoll, die Kategorien "Dialog" und "Dialogizität" auf jene narratologischen Relationen anzuwenden, die gemeinhin als Formen von "Kommunikation" modelliert werden? Eine Antwort auf diese Frage zu versuchen ist Ziel der vorliegenden Skizze. Als Beispielcorpus soll dafür das Werk Dostoevskijs dienen. Kaum ein Autor der Weltliteratur hat den Widerstreit von Bedeutungspositionen so eindringlich und beharrlich modelliert wie dieser zwischen zwei Extremen Schwankende, der so gerne eine unzweideutige Botschaft verkundet hätte. Naturlich ist hierbei auch auf Michail Bachtin einzugehen, der mit größter Wirksamkeit angeregt hat, Dostoevskij unter dem Aspekt der Dialogizität zu betrachten.
Für die Differenzierung von Monolog und Dialog gibt es eine Vielzahl möglicher Aspekte und Hierarchisierungsmöglichkeiten. Es bietet sich hier die Alternative zwischen zwei Perspektiven: Intention und Faktizität. Man kann sich 1) an der einzelnen Rede eines Sprechers und ihrer Intention orientieren oder 2) eine Sequenz von Reden und ihre faktischen Verknüpfungen betrachten. In diesem zweiten Fall muß man auch die vom ersten Sprecher nicht intendierten, ihm nicht bewußten und von ihm nicht einmal in Erfahrung zu bringenden Agglutinationen und Anknüpfungen einbeziehen, die durch den zweiten Sprecher eingebracht werden. Was unter dem ersten Aspekt als Monolog er-scheint, kann unter dem zweiten Aspekt als Dialogreplik ausgelegt werden, und umgekehrt: was als Dialogauslösung intendiert ist, kann ohne Reaktion bleiben. In dieser Skizze soll die erstgenannte Perspektive gewählt werden, die Intention. Danach ist ein Monolog die Rede eines Sprechers, die nicht intendiert, eine sprachliche Replik eines realen, seinsautonomen Gegenübers auszulösen. Diese Definition schließt die Möglichkeit ein, daß ein realer Hörer faktisch repliziert oder der Rede sogar eine Intention auf eine Replik unterstellt; entscheidend ist, daß diese Replik vom ersten Sprecher nicht intendiert ist. Man wird einwenden: die Intention sei ein ungeeignetes Kriterium für die Definition des Monologs, denn wer entscheide darüber, welche Intention vorliege; es gebe Sprechakte, deren Urheber sich nicht einmal selbst über ihre Intention klar seien; ein und derselbe Sprechakt könne zugleich mehrere Intentionen verwirklichen und dergleichen. Alle diese Einwände sind berechtigt. Es soll deshalb von Intention nur insofern gesprochen werden, als sie sich sprachlich oder kontextuell manifestiert. Um einen Monolog handelt es sich auch dann, wenn in einer Rede Repliken intendiert oder sogar antizipiert werden, deren Urheber nicht eine reale, seinsautonome Person ist, sondern eine imaginäre, vom Sprecher lediglich projizierte Instanz, deren Bedeutungsposition letztlich im Bewußtseinshorizont des Sprechers bleibt. Dieser letzte Fall schließt die Situation ein, daß das Gegenüber als Empfänger zwar real existiert, aber stumm bleibt, d.h. als aktiver Gesprächspartner oder Interlokutor lediglich imaginiert wird. Also sind alle Formen des inszenierten Dialogs letztlich dem Monolog zuzurechnen. Auch hier sind grundsätzliche Einwände möglich, etwa der, daß auch ein seinsautonomes Gegenüber für den Sprecher lediglich als angeeignetes Du, als Du-für-mich relevant wird. Von einer noch radikaleren solipsistischen Position könnte man argumentieren, daß an der Replik eines echten Gegenübers ein erheblicher Teil nur Projekt oder Konstrukt sei, daß es das andere für mich nur als mein anderes gebe. Deshalb bedeute es letztlich keinen großen Unterschied, ob meinem Projekt ein seinsautonomes fremdes Ich-für-sich entspreche oder nicht. Alle solche Vorbehalte sind jedoch zu entkräften mit dem Argument der wahren Alterität: es gibt im echten Dialog Repliken, die nicht abzusehen sind, die jede von langer Hand angelegte rhetorische Strategie unterlaufen. Klassische literarische Beispiele dafür sind Christi Kuß in der Legende vom Großinquisitor oder die nicht vorherzusehende Reaktion Tichons auf Stavrogins Beichte. Der Dialog ist also durch zwei miteinander gekoppelten Kriterien definiert worden:
II. "Dialogisch" vs. "monologisch"
Wenn wir die beiden Typen des Bedeutungsaufbaus mit den Redeformen verbinden, ergeben sich vier Idealtypen: 1. der dialogische Dialog, der gekennzeichnet ist durch die Spannung divergie-render Bedeutungspositionen zweier realer, seinsautonomer Sprecher (das ist der Normalfall in den Personendialogen Dostoevskijscher Werke). 2. der monologische Dialog, in dem die Repliken der seinsautonomen Partner ein und dieselbe Bedeutungsposition repräsentieren. Die Repliken können pha-senweise formal durchaus gegenläufig sein und auch Gegensätze enthalten, letztlich ergänzen, bestätigen und bekräftigen sie lediglich die gemeinsame Hal-tung. Eine solche Struktur beobachten wir etwa an den Dialogen zwischen Zosima und Aleša. 3. der monologische Monolog, in dem die in sich festgefügte, überzeugte, unbeeinflußte Position eines Sprechers herrscht. 4. der dialogische Monolog, in dem ein Sprecher - sei es im Rollenspiel oder in der Allegorie, sei es als Ausdruck inneren Schwankens oder psychischer Zerrissenheit - sich in zwei Instanzen aufspaltet, deren widerstreitende Positionen um die Vorherrschaft kämpfen. Wie Bachtin gezeigt hat, sind bei Dostoevskij fast alle Personenmonologe, äußere wie innere, von dieser Dialogizität geprägt. Dialogizität ist aber auch das Merkmal der Erzählmonologe Dostoevskijs.
III. Die Relationen der narrativen Kommunikation unter dem Aspekt der Dialogizität Im folgenden seien sieben Relationen in der narrativen Kommunikation be-trachtet, für die - mehr oder weniger explizit in der Nachfolge von Bachtins Dialogismus-Konzeption - Dialogizität postuliert wird5: 1. Person1 Person2
Diese weit verbreitete Auffassung beruft sich gern auf Platons Unterscheidung von Diegesis und Mimesis. Im Staat (392-394) unterscheidet Platon zwischen der "einfachen [oder "ungemischten"] Erzählung" (άπλή διήγησις ), in der nur der Dichter redet, und der Nachahmung (μίμησις), in der die Personen reden. Durch die Vermittlung des Grammatikers Diomedes aus dem 4. Jh., der dem genus enarrativum das genus activum vel imitativum gegenüberstellt6, wurde diese Scheidung seit dem europäischen Mittelalter höchst wirkmächtig und taucht in jüngerer Zeit in der angelsächsischen Dichotomie von telling und showing wieder auf7. Es fragt sich aber, ob sich die Vertreter der Non-Narrativität der Dialoge im Erzählwerk zu Recht auf Platon berufen. Denn dieser weist die Mimesis der Tragödie und Komödie zu, die Diegesis dem Dithyrambos und fordert für das Epos einen dritten Modus, eine "Mischung" von Diegesis und Mimesis (διάμφοτέςωυ), bei Diomedes genus commune (χοιυόυ vel μιχτον), in dem sowohl der Dichter als auch die dargestellten Personen reden. Und die-ses gemeinsame Reden des Dichters und der Personen, so können wir Platons Ansatz weiterführen, bedingt, daß der Personenrede in der Erzählung ein anderer Status zukommt als im Drama. Die Personenkommunikation ist also nicht grundsätzlich authentisch-mimetisch dargestellt. Der fiktive Erzähler als Urheber der erzählten Welt wird zumindest selektieren, indem er seiner Apperzeption des fiktiven Geschehens folgt, d.h. seine Sinnlinie durch den im Geschehen stattgehabten Dialog legt. Er kann darüber hinaus auch auf mannigfaltige Weise seine Akzente setzen. Selbst wenn wir den hypothetischen Fall voraussetzen, daß er am Personendialog selbst nichts verändert, ihn also vollauthentisch wiedergibt, benutzt er den Per-sonendialog in jedem Fall zum Ausdruck seines Erzählanliegens. Und schon dieser Umstand wirft einen Schatten auf den vermeintlich autonomen Dialog. Semiotisch könnte man diesen Sachverhalt auf folgende Weise modellieren:
Man wird einwenden: dieser Schatten entstehe erst auf der Autorebene, sei weder den Personen noch dem Erzähler bewußt und tangiere nicht die Autonomie des erzählten Dialogs. Dem sei entgegengehalten, daß schon die Absicht der Demonstration, ganz zu schweigen von der Agitation, die Prägnanz der Repliken erhöhen und den Gegensatz der Positionen verstärken wird. Dostoevskij wußte um diese Gesetzmäßigkeit, wenn er sich in der Niederschrift der Brüder Karamazov selbst immer wieder zu temperierenden, relativierenden Maßnahmen aufrief. Er sorgte sich sehr darum, ob seine Widerlegung des Atheismus auch künstlerisch überzeugen werde. In Briefen äußerte er Zweifel daran, ob es ihm gelungen sei, Ivans rationale Argumentation hinreichend deutlich durch Zosimas Vita und Lehren zu widerlegen und ob die Widerlegung nicht zu einseitig und zu ernst ausgefallen sei. Ein Umstand freilich trägt bei Dostoevskij dazu bei, daß die auktoriale Monologisierung des Dialogs weniger bemerkbar wird als bei Tolstoj: das ist die Dialogisierung des abstrakten Autors selbst. Die bachtinsche Metapher der "Dialogisierung" umschreibt hier das Phänomen des Schwankens, der Oszillation, die sich aus dem nadryv ergibt, dem Versuch der ideologischen Selbstver-gewaltigung. Wie ich am Beispiel der Brüder Karamazov zu zeigen versucht habe8, herrscht in dem Roman ein vom Autor nicht intendiertes Schwanken des Autorbildes zwischen zwei antagonistischen Positionen. Dostoevskij I strebt in dem Roman eine überzeugungsstarke Theodizee und eine unmißverständliche Widerlegung des Atheismus an. Dostoevskij II realisiert subliminal einen Gegensinn, der eher Ivans rebellische Argumentation als Zosimas franziskanisch-utopische Belehrung favorisiert und der uns den Autor, der auf die Rolle des Präzeptors des wahren Glaubens prätendiert, als tief Zweifelnden und zwischen den Gegensätzen Schwankenden erfahren läßt. Übrigens ist auch dem scheinbar monologischen, monolithischen Tolstoj der nadryv, die Selbstvergewaltigung nicht völlig fremd. Was ist es anderes als ein nadryv des Autors, wenn in Anna Karenina der ewige Sinnsucher Levin seine Ruhe im Glauben findet?
Jene Relation, in der das Werk wirklich als Medium fungiert, ist die zwischen dem konkreten Autor und seinem Publikum, dem Publikum vor allem seiner Zeit, aber auch späterer Zeiten. Natürlich wird der konkrete Autor immer eine dialogische Haltung zu seinem Publikum einnehmen. Diese Dialogizität hat zwei Grundformen, die notwendig zusammenwirken: o die Orientierung an Kodes, an Erwartungen der gesellschaftlichen Gruppen, an Forderungen der die künstlerischen und ideologischen Maßstäbe setzenden Kritiker usw. Das Publikum hat hier eine aktive Funktion, fungiert als Subjekt der Wirkung, o die Impression, der Versuch des Autors, sein Publikum zu beeindrucken, es zu beeinflussen, zu provozieren usw. Das Publikum ist hier passiv, fungiert als Objekt der Wirkung. Ein Autor kann natürlich auch eine dialogische Relation zu bestimmten konkreten Zeitgenossen aufnehmen, die er als Adressaten anspricht und als Re-zipienten voraussetzt. Ein Beispiel dafür ist Dostoevskijs Beziehung zu Černyševskij in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Dies ist jedoch eher ein Fall der Intertextualität und soll deshalb später behandelt werden. Anders gelagert ist die Kommunikation Dostoevskijs mit Konstantin Pobedonoscev, dem Oberprokuror des Heiligen Synods, der während der Entstehung der zentralen Teile der Brüder Karamazov so etwas wie ein ideologischer Beichtvater des Autors war. Der Briefwechsel während der Niederschrift des Romans zeigt eine starke Einflußnahme Pobedonoscevs und das Bemühen Dostoevskijs, den Erwartungen des Gegenübers zu genügen. Aber es bleibt fraglich, ob sich diese Beziehung wirklich als Faktum des Romans nachweisen läßt. Dostoevskij realisierte ja die "Widerlegung" des Atheismus ganz anders, als er sie Pobedonoscev gegenüber angekündigt hatte. Ivans Rebellion wird nicht durch das Buch Ein russischer Mönch, das in den Briefen wiederholt als "Kulminationspunkt des gesamten Romans" apostrophiert wird9, und auch nicht durch Zosimas sanfte Utopie ausbalanciert. Die Widerlegung wird letztlich durch den ganzen Roman angestrebt. Dabei spielen zwei oppositionelle Struktu-ren eine besondere Rolle: Ivans Kollektion der leidenden Kinder sind zahlreiche Kindermotive entgegengesetzt, zu denen Dmitrijs Reaktion auf das weinende Kind gehört, aber auch die im Roman weitverzweigte Hiobsmotivik. Der Revolte Ivans ist anderseits die von der ästhetischen Freude an der Natur ausgelö-ste Kette der Konversionen entgegengesetzt, die von Zosimas Bruder Markel ausgeht und schließlich auch Ivan erreicht, der immerhin die "klebrigen im Frühling aufgehenden Blättchen" (клейкие, распускающиеся весной листочки)10, also die Natur in der Schwundstufe, allerdings eine literarisch vermittelte Natur11, zu schätzen weiß. 3. Abstrakter Autor abstrakter Leser
Der abstrakte (oder implizite) Leser zerfällt in zwei Instanzen, den abstrakten Adressaten, das vom Autor vorausgesetzte Publikum, und den abstrakten Rezipienten, den vom Autor intendierten, gewünschten Leser. Abstrakter Autor und abstrakter Leser sind Konstrukte. Wessen Konstrukte? Auf den ersten Blick ergibt sich ein symmetrisches Design: der abstrakte Autor ist das Bild, das sich der konkrete Leser vom Autor aufgrund des Werks macht; der abstrakte Leser das Bild, das der konkrete Autor im Schaffensakt vom Adressaten bzw. Rezipienten entwirft. Dieser Anschein der Symmetrie hat Nar-ratologen bewogen, zwischen dem abstrakten Autor und dem abstrakten Leser so etwas wie eine kommunikative Beziehung anzusetzen. In Wirklichkeit erwei-sen sich die Fundierungverhältnisse als komplizierter und als nicht-symmetrisch. Der abstrakte Leser ist das Bild vom Adressaten bzw. Rezipienten, das im Werk impliziert ist. Diese Implikation wird wiederum hypostasiert im abstrakten Autor. Insofern fungiert die Projektion des abstrakten Lesers als Komponente des abstrakten Autors, geht die Vorstellung vom abstrakten Leser in jenes Bild ein, das sich der konkrete Leser vom Autor macht. Das heißt aber: nicht nur der abstrakte Autor, sondern auch seine Projektion des abstrakten Lesers sind Konstrukte des konkreten Lesers. Als bloße Hypostasen werktranszendenter Instanzen stehen der abstrakte Autor und der abstrakte Leser nicht in einer kommunikativen Relation, zwischen ihnen besteht keine Dialogizität.
Natürlich ist die Polemik mit einem Prätext ein Dialog ohne Alterität, also lediglich eine inszenierte Wechselrede, ein Quasi-Dialog. Der Quasi-Dialog kann in seinem Bedeutungsaufbau mehr oder weniger dialogisch sein. In Dostoevskijs Aufzeichnungen beobachten wir eine starke Dialogizität mit größter Spannung zwischen den Antagonisten. Aber das kann natürlich nicht über die grundsätzliche Monologik hinwegtäuschen. Dostoevskij verbirgt die geheime Monologizität des Quasi-Dialogs seiner Aufzeichnungen dadurch, daß er den Repräsentanten seiner eigenen Philosophie psychologisch aufs äußerste diskreditiert und sich von ihm weit distanziert.12
Könnte man nicht gleichwohl von einer Form der Dialogizität sprechen? Befreit sich der Autor in der stilisierten Erzählerrede nicht von seinem solum ipsum, experimentiert er nicht mit einer fremden Sprache als einer möglichen andern Weltmodellierung, und nimmt ein solches Experiment nicht zuweilen die Form eines trial-and-error-Prozesses an? Bachtin selbst denkt an diese Möglichkeit offensichtlich weniger. Seine Beispiele illustrieren eher ein agonales Verhältnis zwischen Autor und Erzähler. Zudem rückt für ihn der Erzähler tendenziell in die Ebene der objektivierten Instanzen. Der in der Narratologie selbstverständliche Unterschied zwischen Darstellen und Erzählen wird bei ihm nicht systematisch vollzogen.
Bachtins Paradebeispiel ist im Dostoevskij-Buch der Doppelgänger und in späteren Publikationen der europäische humoristische Roman. Das Phänomen ist mit "Dialogizität" höchst metaphorisch, und in diesem Falle irreführend metaphorisch, bezeichnet. Was im Doppelgänger auf den ersten Blick tatsächlich wie eine Wechselrede zwischen dem ironisch-outrierenden Erzähler und dem sich verteidigenden Helden aussieht, ist nichts anderes als der Übergang einer inneren Rede des Helden von erlebter Rede in direkte Rede. Es geht also nur um einen Wechsel der Darbietungsschablonen (direkte Rede, indirekte Rede, erlebte Rede). Dialogisiert ist tatsächlich nur die innere Rede des Helden selbst.14 Symptomatisch ist, daß Bachtin und auch Vološinov sich ausnahmslos für solche Fälle der erlebten Rede interessieren, in denen die ironische Erzähler-stimme das Heldenwort zum Objekt macht, dominiert, vernichtet. Voloinov nennt als Bedingung jener Struktur, die er "Redeinterferenz" (rečevaja interferencija) nennt, die "Doppelakzentigkeit" (dvuakcentnost'), die "unterschiedliche Gerichtetheit" (raznonapravlennost'). Hier tritt die agonistische Redemodellierung zutage, die sowohl Bachtin als auch Vološinov pflegen. Letztlich verdankt sich dieser Agonismus der Furcht vor dem Verlust der Souveränität des Autors, einer Furcht, die die Schriften Bachtins von der ersten bis zur letzten Arbeit mehr oder weniger manifest durchzieht.15 Warum hat Bachtin an Dostoevskij nicht auch andere Typen der erlebten Rede als die ironische Reproduktion diagnostiziert, und warum hat er die erleb-te Rede nicht auch an Autoren wie dem Relativisten Čechov analysiert, wo man viel eher von echter Dialogizität sprechen könnte? Eine Antwort könnte lauten: weil er nichts stärker fürchtete als die Relativierung der Werte, die Schwächung des auktorialen Prinzips, die Abdankung des Autors. In der echten Personalisie-rung des Erzählens, die er an der Prosa "von Dostoevskij bis Belyj" beobachtet, sieht er ein tiefes Mißtrauen gegenüber "Außerhalbbefindlichkeit" (vnenachodimost'), eine Tendenz, die er in Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit mit nichts Geringerem vergleicht als der "Immanentisierung Gottes", mit der "Psychologisierung Gottes und der Religion"16.
Auch wenn der fiktive Leser als aktiv replizierend entworfen wird, verdankt er sich der Antizipation durch den Erzähler. D.h. diese Aktivität und ihr Inhalt bleiben im Horizont des entwerfenden Erzählers. Der fiktive Leser hat keine Alterität. Einen echten Dialog und eine authentische Kommunikation kann es deshalb zwischen dem Erzähler und seinem Gegenüber nicht geben. Gegen diese Konzeption ist eingewendet worden, der narrataire könne durchaus eine unabhängige Position einnehmen, existiere also nicht aus-schließlich von Gnaden des Erzählers17. Natürlich gibt es Erzählkonstellationen mit einem nicht nur vom Sprecher projizierten Hörer, aber dann wird diese Kommunikation ihrerseits von einem Erzähler höheren Grades erzählt, gegen-über dem der narrateur als Person fungiert. Die stärksten Beispiele eines aktiven narrataire liefert in der russischen Literatur zweifellos das Werk Dostoevskijs. In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, im Jüngling und in der Sanften hat er einen neuen Erzähltypus kreiert, den man dialogischen Erzählmonolog nennen könnte.18 Der fiktive Leser wird hier als kritisch replizierender Widerpart entworfen, dessen vorausgesetzte Repliken der Erzähler antizipierend formuliert, um sie polemisch zu entkräften oder zu widerlegen oder um ihnen durch Relativierung eigener Positionen den Boden zu entziehen. Der Erzählmonolog zerfällt hierbei gleichsam in zwei Texte, die aufeinander agonal-dialogisch reagieren und die durch ihre wechselsei-tigen Reaktionen die Erzählprogression bedingen. Alle Einwände, die das monologisierende Ich seinem Gegenüber unterstellt, entspringen natürlich seinem eigenen Bewußtsein. Es gibt keine selbständigen Repliken von außen, die den Sprecher in seinem Innersten unvorbereitet treffen könnten oder ernstlich in die Gefahr brächten, die eigene Position grundlegend revidieren zu müssen. Durch alle Windungen der Wechselrede hindurch kann der Erzähler eine im Prinzip vorausberechenbare Erzähllinie verfolgen. Und so erfüllen diese Erzähler, seien sie auch noch so sehr mit ihrer Apologie und der Attacke des Kritikers beschäftigt, eine prinzipiell narrative Funktion, d.h. sie erzählen tatsächlich eine Geschichte, eine Geschichte des eigenen Scheiterns. Aber das Erzählen dieser Geschichte hat für sie wiederum dialogische Funktionen, nämlich die des Appells und der Impression: sie wollen, wenn sie schon nicht durch Handlun-gen brillieren, zumindest durch die Schonungslosigkeit ihrer Selbstanalyse be-eindrucken. Die narrativen Strategien dienen der Entwicklung einer Lebens-beichte, deren Aufrichtigkeit den Hörer zugleich erschrecken und beeindrucken soll. Wir stoßen hier auf eine Spur von Lermontovs Pečorin und letztlich der romantischen Ironie. Wenn das eigentlich angestrebte Ideal - und Dostoevskijs zynische Sprecher sind verkappte Idealisten - schon nicht erreichbar ist, dann muß als Surrogat das Artefakt, die Poesie oder die schonungslose Selbstentlarvung dienen.
Dostoevskijs dialogische Erzählmonologe entfalten nun freilich ein
Paradox: die fehlende Alterität des Gegenübers wird durch die
Alterität des Ich ersetzt. Das Paradox besteht in der Alterität
der Identität, in der Fremdheit des Subjekts sich selbst gegenüber.
Das Ich ist sich so fremd, daß es vor den eige-nen Möglichkeiten
und Abgründen, den "Abgründen nach oben und nach unten",
wie es in den Brüdern Karamazov heißt19,
tiefer erschrecken kann, als esje vor Fremdem erschrecken würde.
Die solipsistische Dimension der Dialogizität, die Verlegung der
Alterität von außen nach innen scheint eine wesentliche Eigenart
der Dostoevskijschen Dialog- und Subjektkonzeption zu sein. Die Alterität
des Subjekts, die Fremdheit des Ichs für sich selbst verleiht den
Erzählmonologen Dostoevskijs jene echte Dialogizität, die ihnen
der nur imaginierte Status des angesprochenen Gegenübers vorenthält.
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Gedruckt in: Ingunn Lunde (Hg.), Dialogue and Rhetoric. 1
Jan Mukařovsky,
"Dialog a monolog" (1940), dann in: J. M., Kapitoly z české poetiky, Bd.
, Praha 21948, S. 129-153, hier: S. 129; dt. in: J. M., Kapitel aus
der Poetik, Frankfurt am
Main 1967, S. 108-149, hier: S. 108.
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